Die neuen Leiden des jungen W Charlie

Mit seinem Stück »Die neuen Leiden des jungen W.« hat der Ost-Berliner Autor Ulrich Plenzdorf eine Debatte über DDR-Literatur ausgelöst. Die Romanfassung des Stoffes erscheint jetzt auch in der Bundesrepublik.

25.03.1973, 13.00 Uhr aus DER SPIEGEL 13/1973

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DDR-Staranwalt und Krimi-Dichter Friedrich Karl Kaul war von heftigem Unwohlsein ergriffen.« Mich ekelt geradezu«, so schrieb er in einem Polter-Brief an die Ost-Berliner Literaturzeitschrift »Sinn und Form«, vor dieser »Verfälschung unseres sozialistischen Seins und Werdens«.

Was Krimi-Kaul quält, reißt derzeit Abend für Abend Scharen von -- meist jugendlichen -- Theaterbesuchern in Halle, Potsdam und Ost-Berlin zu Beifallsstürmen hin: »Die neuen Leiden des jungen W"« ein Stück des DDR-Erfolgsautors Ulrich Plenzdorf« 38. Sogar das »Neue Deutschland« sah »Beträchtliches an Wirklichkeit« und spendete »hohes Lob«.

Mit seinem Stück und einer jetzt zugleich in der DDR (beim Rostocker Hinstorff-Verlag) und der Bundesrepublik (bei Suhrkamp) erscheinenden -- früheren -- Romanfassung des Stoffes hat sich der »Defa«-Szenarist mit einem Schlag an die Spitze der deutschdemokratischen Literatur geschrieben und auch gleich eine kulturpolitische Diskussion ausgelöst*.

Denn der Held seiner Geschichte. Edgar Wibeau, 17, ist alles andere als ein Optimator der sozialistischen Leistungsgesellschaft: Er ist ein Ausreißer -- aber, so beruhigt ein Ost-Berliner Kritiker, »doch nicht ein Ausreißer aus dem Sozialismus«.

Gewiß nicht -- und gerade darum erkennen DDR-Teens in den Leiden des jungen Wibeau ihre eigenen Leiden. Beflügelt vom Honecker-Wort. daß es für Literatur und Kunst künftighin »keine Tabus« gebe, stehe man nur auf »der festen Position des Sozialismus«. will eine skeptische neue Generation von ihren Sehnsüchten sprechen, von ihren Problemen und Zweifeln.

Edgar Wibeau ist einer von ihnen, war einer von ihnen. Denn Edgar ist tot. Am Weihnachtsabend hat es ihn in einer Berliner Gartenlaube mit einem Stromschlag ("380 Volt sind kein Scherz, Leute") erwischt. Nun kommentiert er, postum, Fragen und Erklärungsversuche seines Vaters, seiner Freunde, die nicht begreifen, warum der hochbegabte, sensible Junge ausflippte, warum er sich zurückzog, seltsam verinnerlichte, unangreifbar, unbegreiflich wurde.

* Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W.«. Suhrkamp Verlag, Frankfurt; 148 Seiten; 14 Mark.

Musterschüler Edgar »kündigt zu Hause« in Mittenberg, weil er sich nicht einpassen lassen will. Er haßt »tiffige« Vorschriften ("Ich finde, man muß dem Menschen seinen Stolz lassen") und Vorbilder ("Mein größtes Vorbild ist Edgar Wibeau. Ich möchte so werden, wie er mal wird"), liebt Jeans ("Kann sich einer ein Leben ohne Jeans vorstellen?"), Blues und Mädchen ("Man kommt morgens völlig vertrieft aus dem ollen Bett, sieht die erste Frau am Fenster, schon lebt man etwas").

In einer Berliner Abbruchlaube igelt er sich ein, malt, träumt ("das verkannte Genie") und findet »auf dem Plumpsklo« im Dunkeln schließlich ein altes Reclamheft, »opfert« Titelblatt und Nachwort und liest das »komische Heft« von den anderen Leiden eines anderen jungen W.: Goethes Werther.

Von da an legt Autor Plenzdorf das Schicksal des jungen Wibeau wie eine Klarsichtfolie über die Leiden des jungen Werther: Edgar findet seine Charlotte ("Charlie") wie Werther inmitten einer Kinderschar, liebt sie, wenn auch von fern, mit schnoddrigem Sentiment und bewältigt Charlies stumpfen Verlobten Dieter ("dieser Kissenpuper") sowenig wie Werther Lottens aufrechtspießigen Albert.

Goethes empfindsamen Schmerzensmann entdeckt Edgar, der seine überbordende Zärtlichkeit gern auch hinter harschem Pubertäts-Jargon tarnt, als neue »Geheimwaffe«. So sendet er seinem Freund Willi (bei Goethe: Wilhelm) ein Tonband: »Kurz und gut

Wilhelm / ich habe eine Bekanntschaft gemacht / die mein Herz näher angeht -- einen Engel -- die geflügelten Worte Werthers an seinen Herzensbruder Wilhelm.

Doch Freund Willi bittet Edgar in seiner Tonband-Antwort verwirrt um den »neuen Code« -- er versteht kein Wort. Und wann immer die Wirklichkeit Edgar bedrängt, schnoddert er sie mit Werthers hehren Texten ab. So auch die Malerbrigade, in der er gelegentlich Geld verdient, um sich neue Tonbänder kaufen und sich -- ein sozialistischer Neuerer auf romantischem Ego-Trip in aller Stille der Erfindung einer neuartigen Spritzpistole widmen zu können.

Und wie Werther nach einem letzten rauschhaft-verzweifelten Erlebnis mit Lotte am Vorweihnachtsabend »den Löffel abgibt« und sich »ein Loch in seine olle Birne« (Edgar) schießt, so geht auch Edgar W. nach dem ersten, emphatischen Kuß von Charlie bei seiner ehrgeizigen Bastelei »über den Jordan« -- eine »Stromsache«.

So überlagern sich die Identitäten -- am Ende ist die Gammel-Type Edgar selber der »junge Werther in Blue jeans« ("Neues Deutschland"). Eben darum aber geht jetzt die literarische Diskussion in der DDR. Zwar rühmen Literaturwissenschaftler. Schriftsteller und Theaterleute in einer von »Sinn und Form« kürzlich publizierten Diskussion »diese Sprache zwischen Pubertät und Berufsschulabschluß« als »fix und gefühlskarg. nüchtern und doch bildhaft -- die behende Lässigkeit jugendlicher Gestik«.

Doch nur mit gewissenhafter Vorsicht wollen sie den Einbruch der »neuen Subjektivität« in die realistische DDR-Literatur und die dialektische, keineswegs alternative Klassiker-Adaptation hinnehmen. Vor allem aber sorgen sich einige Kritiker, ob denn »bei dieser Art Aneignung des Erbes« die kulturelle Hinterlassenschaft der literarischen Altvordern nicht Schaden nehme für die Verwendbarkeit im Aufbau einer sozialistischen Nationalkultur.

Da ist auch Literat Kaul wieder ganz in seinem Element. Erstens weiß er, daß »derart verhaltensgestörte Jugendliche dank der energischen Maßnahmen unseres Staates alles andere als repräsentativ sind für unsere Jugend«. Zweitens will sich der Sprachkünstler geradezu schütteln angesichts der »laudierten Inbezugsetzung eines verwahrlosten Jugendlichen mit der Goetheschen Romanfigur: von dem Fäkalien-Vokabular der Plenzdorfschen Figur ganz zu schweigen«.

Zwar tat der Lyriker Stephan Hermlin, gleichfalls in »Sinn und Form«, die Kaul-Philippika sogleich als »belanglos« ab; Kaul könne überhaupt »nicht wissen, wie Arbeiterjugend denkt«. Aber die Besorgnis, »kulturelles Erbe« werde verschlampt, ist derzeit populär in der DDR. nicht zuletzt durch einen polemischen Essay des acht Jahre lang in der DDR internierten und geächteten, 1964 freigelassenen Philosophen Wolfgang Harich in derselben »Sinn und Form«-Ausgabe.

In dem Aufsatz, in dem er auch den westdeutschen Dokumentar-Romancier Hans Magnus Enzensberger ("Der kurze Sommer der Anarchie") angeht, bricht er den Stab über einen Teil der sozialistischen Gegenwartsliteratur. Vor allem aber beschimpft er, teils brillant, teils überzogen, den Ost-Berliner Dramatiker Heiner Müller wegen dessen kruder »Macbeth«-Bearbeitung und der darin zutage tretenden »reaktionären Ideologie« sowie des »rapiden Niedergangs seiner Sprachkultur«.

Zudem beklagt er brutalen, eigensüchtigen und eitlen Umgang mit gesicherten Sprachwerken, zeiht den Dramatiker einer »Mentalität des außengeleiteten intellektuellen« und verdächtigt ihn, nur »der westlichen Pornowelle Tribut zu zollen, um »in« zu sein«. Mit diesen »Typen, die sich aus Modeabhängigkeit der Pornographie an den Hals werfen«, beginne, so Harich furios. »der erneute Abstieg in die schon überwunden geglaubte Steinzeit«.

Die Antwort auf diese -- angesichts der Neuerungen in DDR-Dramatik und -Literatur arg orthodoxe -- Polemik steht in der DDR noch aus: sie wird, darüber sind sich DDR-Autoren ziemlich einig, heftig ausfallen.

Doch die kulturpolitischen Ultras der Bundesrepublik haben schon Witterung aufgenommen. »Welt«-Feuilletonist Günter Zehm beispielsweise hofft auf »neue unerwartete Koalitionen« zwischen Westdeutschlands rechten Kulturbewahrern und den, so Zehm. DDR"Gegenkräften«.

Springers »Welt«-Geist hofft vergebens. Letzte Woche übermittelte ihm Gegenkraft Harich einen Brief. »Hochachtungsvoll« und mit Bitte um Abdruck teilt Harich Zehm die Koalitions-Kautelen mit: »Die Bedingung bestünde darin, daß zunächst ein 'Rollkommando', bestehend aus Enzensberger, Heiner Müller und mir, Sie erschießt. Danach könnte das Bündnis zwischen Ihnen und mir so aussehen, daß ich in einem Nekrolog rühmend hervorhebe, Sie hätten sich bei Lebzeiten zu den Traditionen des europäischen Romans bzw. zum Erbe Shakespeares respektvoller verhalten als meine Mittäter.

Ironiker Harich schließt: »Um Blutvergießen zu vermeiden, sollten wir, denke ich, das Koalieren besser sein lassen.«